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Herzsutra

Der Begriff "Vollkommenes Verstehen" der Prajnaparamita

 

 

Zentrale Begriffe der Prajnaparamita

 

(Diesen Artikel schrieb ich für das Yogawiki als ich noch Sevaka in der Yoga Vidya Ashramgemeinschaft war. Von daher erlaube ich mir nun diesen Beitrag auch hier auf meiner Seite zu veröffentlichen. Mein Yogawikipseudonym war damals Panduranga.)

 

 Zentrale Begriffe der Prajnaparamita sind Leerheit bzw. Leere, Strom bzw. strömen, Angst überwinden, das Überwinden der Täuschung und verstehen bzw. sogar das vollkommene Verstehen. Besonders letzteres wird hier als das "Mantra ohnegleichen" beschrieben. Dies ist das verheißungsvolle Geschenk das uns der Bodhisattva Avalokiteshvara macht. Bodhi bedeutet "erwacht sein" und Sattva heißt "Lebewesen". Ein Bodhisattva ist demnach ein erwachtes Lebewesen und der Name des Bodhisattva ist Avalokiteshvara. Manchmal wird er/sie auch als "Avalokita" bezeichnet. Im chinesischen ist der Name "Kwan Yin", im Vietnamesischen "Quan Am" und im Japanischen "Kannon". Die Bedeutung dieser Namen lautet sinngemäß: Der der das Weinen der Welt erhört und zur Hilfe eilt.

 

Leere - Leerheit

 

In gewissem Sinne eilt Avalokiteshvara zu uns Menschen heute und möchte uns vollkommenes Verstehen lehren. Er ist "tief im Strom vollkommenen Verstehens, erhellte die fünf Skandhas und fand sie gleichermaßen leer. Dies durchdringend, überwand er alles Leiden." So wird er uns dargestellt, das Ziel schon erreicht, also mit vollkommenen Verstehen. Die Skandhas sind die fünf Sinneswahrnehmungsorgane des Menschen: Augen, Nase, Ohren, Haut und Mund. Die dazugehörigen Sinneswahrnehmungsfähigkeiten: Sehen, Riechen, Hören, Tasten und Schmecken.

 

In seinen Untersuchungen, vielleicht besser ausgedrückt: in seinen Meditationen, erhellte der Bodhisattva, diese Skandhas. Das bedeutet er erkannte ihre wahre Natur. Normalerweise denkt der Mensch, er sei ein eigenständiges und unabhängiges Selbst. Seine Sinne gehören zu seinem Selbst und sind untrennbar davon. Avalokiteshvara entdeckt aber das diese Leer sind.

 

Was soll nun Leere bedeuten? Wenn ich zum Beispiel eine Kanne Milch in der Hand halte, und ich dich frage: Ist diese Kanne voll? Dann würdest du diese beantworten mit: "Ja, sie ist voll." Oder: "Ja, sie ist voller Milch." Wenn ich nun die Milchkanne entleere und reinige, dich erneut frage, ist diese Kanne voll oder leer? Dann würdest du antworten: "Ja, sie ist leer." Könntest du nun aber antworten, von was diese Kanne leer ist? Wenn du vorher schon wusstest, das Milch darin war, könntest du antworten: "Sie ist leer von Milch." Hätte ich dir aber von Anfang an nur eine leere Kanne gezeigt, hättest du immer nur antworten können: "Ja, sie ist leer." Aber nur selten fragt man sich weiter: "Leer von was?" Eine spannende Frage.

 

Leere bedeutet nun im Bezug auf uns als Mensch, dass es kein eigenständiges Selbst gibt, an das diese Sinne oder Skandhas gekoppelt ist. Vielmehr erkennt Avalokiteshvara in diesen Skandhas einen beständigen Strom bzw. Ströme, welche sich zudem auch noch gegenseitig bedingen. Ein Selbst, also ein Ich, lässt sich nicht auffinden. Und hier setzt die Schwierigkeit des Verstehens ein. Als Mensch besonders der westlichen Hemisphäre und Kulturkreises, bin ich mit einem dualistischen Weltbild tief in einer materiellen Philosophie verankert. Hier sprengt die Prajnaparamita, sämtliche Fesseln. Die Aussage: Es gibt kein Ich, kein Selbst, es gibt nur ein Sein, oder wie Thich Nhat Hanh einen neuen Ausdruck prägt: ein "Inter-Sein".

 

Inter-Sein - Inter-Being

 

Die fünf Skandhas der Form, der Empfindungen, der Wahrnehmungen, der geistigen Formkräfte und des Bewusstseins, all diese entdeckte Avalokiteshvara als Leer. Sie können nicht aus sich selbst heraus existieren. Sie bedingen und durchdringen einander. Das eine kann nicht ohne das andere existieren. Sowie das Blut nicht ohne Lungen existieren kann und umgekehrt. Alles ist derart miteinander verbunden, dass wenn ich eines herausnehmen würde, die anderen nicht mehr sein würden. Daher entwickelte sich der Begriff: "Inter-Sein" oder im Englischen: "Inter-Being". Diese Entdeckung gilt gleichermaßen für alle genannten Kräfte in der Prajnaparamita.

 

Lieben heißt vollkommenes Verstehen

 

Wenn du das alles durchdringst und erkennst, das es kein Ich gibt, lösen sich alle Widerstände auf, egal ob im Bereich der Sinneswahrnehmung oder im geistigen Bereich. Dann verschwindet auch die Angst. Der Bodhisattva meint mit "vollkommenem Verstehen" das Verstehen als Fluss, als ein beständiges Strömen ohne Hindernisse, und weniger als ein Festhalten an Wahrheiten.

 

Und dieser beständige Fluss, der letztendlich nur erfahren werden kann und weniger beschrieben, ist die Liebe selber. Wenn man also etwas wirklich verstehen möchte in seinem Leben, sei es den eigenen Partner, ein Baum in der Natur oder sich selbst, gilt es, sich ganz mit diesem zu vereinen, ganz zu lieben, ganz zu verschmelzen, um es ganz "verstehen" zu können. Vielleicht kann die nächste Geschichte dies auf einfachere Art und Weise besser veranschaulichen.

 

Vollkommenes Verstehen oder die Geschichte vom Salzkorn und dem Meer

 

Es gibt eine alte Geschichte über ein Salzkorn, das wissen wollte, wie salzig das Meer eigentlich ist. Um dies in Erfahrung zu bringen, sprang es ins Meer und wurde eins mit dem Wasser. Auf diese Weise erlangte das kleine Salzkorn vollkommenes Verstehen.

 

Swami Sivananda und viele andere Meister vor ihm und nach ihm waren wie dieses kleine Salzkorn und sprangen in das Meer der Unendlichkeit, also in unseres wahres Selbst. Im Yoga bezeichnen wir das als "Satchidananda". Das bedeutet soviel wie "Sein Wissen Glückseligkeit". Meditation ist der Weg dorthin. Hatha Yoga ist eine gute Möglichkeit, sich darauf vorzubereiten. Das Studium der Schriften, wie zum Beispiel dieses wunderbare Herz-Sutra ist ebenfalls ein wichtiger Weg, "Jnana Yoga" genannt. Durch Dienst an Gott und den Mitmenschen kann man an seinen Hindernissen wie Selbstsucht, Egozentriertheit, Gier und was es noch so gibt, gut an sich arbeiten.

 

Doch dieser Sprung in die Leere, so wie das Salzkorn, erfordert Mut, Vertrauen, Hingabe und Weisheit. Doch der Lohn scheint das größte Glück zu sein. Moksha, Befreiung, wahrer Friede. Alle Religionen haben dieses letztendlich zum Ziel.

 

Frucht der Meditation

 

Wie schon erwähnt ist Meditation der Weg - auch um das Herz-Sutra selber zu verwirklichen. Thich Nhat Hanh ermutigt uns in seinem Buch "Mit dem Herzen verstehen" zur Meditation:

 

"Da wir das Gute und das Böse gleichzeitig sehen, das Wunderbare und das große Leid, müssen wir so leben, dass wir Frieden zwischen uns und der Welt schließen können. Verstehen ist die Frucht der Meditation. Verstehen ist die Grundlage von allem. Jeder Atemzug, den wir tun, jeder Schritt, den wir gehen, jedes Lächeln, das wir lächeln, ist ein positiver Beitrag zum Frieden, trägt zum Frieden in der Welt bei. Im Licht des wechselseitigen Durchdringens, des Inter-Seins, bedeuten Frieden und Glück in unserem eigenen täglichen Leben auch Frieden und Glück in der Welt." (Seite 93)

 

An anderer Stelle sagt Thich Nhat Hanh:

 

"Im Licht buddhistischer Meditation ist Liebe ohne Verstehen unmöglich. Ihr könnt niemanden lieben, wenn ihr sie oder ihn nicht begreift. Wenn ihr jemanden liebt, aber nicht versteht, so kann man das nicht wirklich "Liebe" nennen, das ist etwas anderes. In seiner/ihrer Meditation drang Avalokita tief in die fünf Skandhas ein. Eintauchen in den Strom der Form, der Empfindungen, der Wahrnehmungen, der geistigen Formkräfte und des Bewusstseins, entdeckte er/sie deren leere Natur, und plötzlich überwand er/sie alles Leiden.

 

Wollen wir diese Art der Befreiung erlangen, so müssen auch wir die Menschen und Dinge durchschauen, um die wahre Natur der Leerheit zu durchdringen." (Seite 31-33)

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